Karl Schwarz

 

 

Von Wien nach Preßburg/Bratislava

Historische Beobachtungen anlässlich der Eröffnung des Instituts für Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Comenius-Universität am 28.11.2000.

 

 

1. Einleitung

Zunächst ist es mir ein ganz besonderes Anliegen, Ihnen allen zu danken, die Sie die Übersiedlung des Instituts für Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes nach Bratislava und unseren Neubeginn durch Ihre Anwesenheit geehrt haben. Ich danke aber auch allen, namentlich den beiden Bischöfen Herwig Sturm und Julius Filo und dem Herrn Dekan Igor Kišš, dass sie mein Konzept unterstützt haben : Es bedeutet die Reaktivierung dieses Instituts unter dem Vorzeichen einer grenzüberschreitenden Vernetzung kirchengeschichtlicher und kirchenkundlicher Forschung in dem apostrophierten Donau- und Karpatenraum.

 

Mit dieser Intention sind unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen die Vorväter unseres Instituts an die Arbeit gegangen und ich erinnere mich noch gerne an eine Tagung, an der ich als junger Nachwuchswissenschaftler teilgenommen habe: mit Ján Petrík und Vladimir Gál, mit Mihály Bucsay und László Makkai, mit Amedeo Molnár und Erik Turnwald, um nur diese verstorbenen Historiographen ihrer Kirchen zu nennen.

 

Durch die Übersiedlung sind wir unserem Forschungsgegenstand näher gekommen. Vor allem aber trägt diese der engen historischen Verbindung zwischen unseren Kirchen und unseren Theologischen Ausbildungsstätten Rechnung. Denn - und hier werde ich nicht müde, das geographische Argument ins Spiel zu bringen: Die beiden Fakultäten in Wien und Bratislava liegen enger beisammen als jene von Heidelberg und Tübingen. Was nun dort frommt, dass nämlich die Ausstattung der Fakultäten darauf Rücksicht nimmt und nicht mehr alle Disziplinen an beiden Orten angeboten werden, das könnte auch für Bratislava und Wien gelten. Ich träume davon, dass Studenten von Wien hierher pendeln, um die Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes zu studieren, ich träume davon, dass es uns hier gelingen wird, interessante Symposien zu veranstalten, die von Kolleginnen und Kollegen aus Prag, Wien, Budapest, Prešov, Hermannstadt, Klausenburg und Debrecen besucht werden. Ich nenne auch noch Teschen und Krakau, Lemberg und Czernowitz, Bački Petrovac, Sarajevo und Triest, um diesen Raum zu durchmessen und den Forschungsrahmen zu skizzieren. 

 

2. Im folgenden möchte ich unter dem Stichwort „von Wien nach Preßburg“ eine kleine historische Erinnerung darbieten und drei Persönlichkeiten unserer Kirchengeschichte, die heute vielfach vergessen sind, in unser Blickfeld zurückholen.

a. den lutherischen Tschecho-Slowaken Karel Bohuslav von Lány (1870-1949),

b. den Karpatendeutschen Jakob Glatz (1776-1831),

c. den slowakischen Polyhistor Ján Kvačala (1862-1934).

 

a. Ich beginne mit Karel Bohuslav von Lány wegen einer besonderen Pointe. Denn Lány ist nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie nicht nur als 48jähriger von Wien nach Bratislava übersiedelt, er verließ (in einer doch bemerkenswerten Parallele zu dem hier im Mittelpunkt stehenden Institut) das Gebäude des Wiener Oberkirchenrates, wo er seit 1904 als Sekretär gewirkt hatte, um in Preßburg die Kultusagenden im Schulministerium zu übernehmen und nebenamtlich als Professor für Systematische Theologie an der hiesigen Theologischen Hochschule zu wirken. Er hat also denselben Weg hinter sich gebracht wie unser Institut, nota bene in demselben Alter, in dem ich mich jetzt gerade befinde, und er hatte seine wissenschaftliche Tätigkeit an der Preßburger Hochschule im Nebenamt zu erbringen, soweit es sein eigentlicher Brotgeber, das Ministerium, eben zuließ.

 

Lány entstammte einem lutherischen Pfarrergeschlecht, das nach dem Erlass des Toleranzpatentes 1781 aus Ungarn nach Böhmen gekommen war. Als Vermittler fungierte der hier in Preßburg tätige Pfarrer Michal Institoris-Mossótzy (1732-1803). Der gleichnamige Vater unseres Lány: Karel Eduard v. L. (1838-1903) wirkte als Pfarrer, Senior und zuletzt als lutherischer Superintendent in der ostböhmischen Siedlung Černilow, er hatte in Wien, dann aber an den reformierten Fakultäten in Basel, Halle und Edinburgh studiert, er hatte vor allem im Neuluthertum seine eigentliche theologische Heimat gefunden und war in der Folge bestrebt, die tschechischen lutherischen Gemeinden in die Gemeinschaft mit dem Luthertum deutscher und slowakischer Zunge zu führen. Insofern ist er sogar mit dem Proponenten des Neuluthertums in der Slowakei Jozef Miloslav Hurban (1817-1888) verglichen worden. Der Sohn übernahm sozusagen die lutherische Prägung des Vaters und absolvierte sein Theologiestudium in Wien, dann aber an den bewusst lutherischen Fakultäten in Leipzig und Erlangen. In Wien promovierte er mit einer dogmengeschichtlichen Arbeit über Theophilus von Antiochien 1897 zum Lic.theol., sechs Jahre später 1903 mit einer beachtlichen und voluminösen Arbeit über Prolegomena zu einer apologetischen Dogmatik zum Dr.theol.

 

Nach zehnjähriger pastoraler Tätigkeit in der Gemeinde Schonow in der Umgebung von Nachod - aus dieser Zeit sind mehrere in Druck gelegte „patriotische Predigten“ (1898, 1908) erhalten - wechselte er im Herbst 1904 in den k.k. evangelischen Oberkirchenrat A.u.H.B. und wirkte dort im gemeinsamen Sekretariat.

 

Sein Wechsel nach Preßburg ist unter dem Gesichtspunkt des sogenannten „Tschechoslowakismus“ zu sehen. Darunter verstehen wir das vor allem in der Evangelischen Kirche in der Slowakei weit verbreitete Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von Tschechen und Slowaken. Prägende Elemente dieses verbindenden Bewusstseins war die gemeinsame alttschechische Kralitzer Bibelübersetzung (sog. bibličtina) und das in dieser Sprache gehaltene Kancional des Georg Tranoscius/Júr Tranovský (1592-1637). Über eine solche „ideologische“ Klammer verfügten die Katholiken nicht. An dieser Stelle muss auch gesagt werden, dass dieses Bewusstsein der gemeinsamen Bibelübersetzung eine ganz enorme Stärkung der slowakischen Lutheraner in ihrer ethnischen Gefährdung durch den Magyarismus bedeutete.

 

b. Der zweite Wechsel, der von Wien in Richtung Preßburg vollzogen wurde, betrifft den Karpatendeutschen Theologen und Pädagogen Jakob Glatz. Er stammte aus Poprad/ Deutschendorf in der Zips, er hatte am Preßburger Lyceum studiert (1793-96), von dem gesagt werden konnte, dass es ein „kleines Jena“ gewesen sei, eine „Expositur“ der protestantischen Universitäten. Er wechselt in der Folge an die Salana nach Jena und erlebt dort die ersten akademischen Erfolge von Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), vor allem wird er mit den philanthropischen Erziehungsanstalten und -methoden des Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) konfrontiert und macht sie sich zu eigen. Aus politischen Gründen an der Rückkehr in das damalige Ungarn gehindert, wirkte er sieben Jahre in Schnepfenthal am Rande des Thüringer Waldes.

 

1804 kehrte er zurück, aber nicht in die Zips (von dort holte er allerdings seine Ehefrau) und nicht nach Ungarn, sondern nach Wien. In der Haupt- und Residenzstadt fand er zunächst als Lehrer an der Evangelischen Schule eine einschlägige Verwendung, bald als Prediger und Konsistorialrat. In dieser Funktion war er für die 1821 eröffnete Protestantisch-theologische Lehranstalt zuständig und hatte etwa auch den ihr zugrundeliegenden Studien- und Organisationsplan zu verantworten. Im übrigen aber war er ein begnadeter Schriftsteller, dessen Schriften sogar am Kaiserhofe gelesen wurden. Mehr als 120 Bände hat er publiziert und mit diesen Werken ist sein Name „in die Christenfamilien an der Themse wie an der Loire, oder Tiber wie an der Donau gedrungen“, wie es ein Kritiker im Jahre 1833 zwei Jahre nach seinem Tod formulierte.

 

Der Tod ereilte ihn aber in Preßburg, wohin er als 48jähriger übersiedelt war. Er hat in seinen „Freymüthigen Bemerkungen eines Ungars über sein Vaterland“ (1799) von dieser Stadt ein schönes Bild gemalt, er bezeichnet sie als die unstreitig erste und vorzüglichste Stadt im ganzen Land, über der ein milderer Genius walte. Man empfinde hier schon einen Vorgeschmack von Deutschland. Das begründet er nicht zuletzt damit, weil die Stadt nur zehn Meilen von Wien entfernt sei und mit dieser Residenz in großem Verkehr stünde und mit ihr in puncto Lebensart vieles gemein habe.

 

Insbesondere dieser Hinweis auf den „großen Verkehr“, das bedeutet: auf die gute infrastrukturelle Verkehrsverbindung wird hier aufmerksam notiert. Glatz unterstrich dieses Zitat durch sein persönliches Beispiel, denn er nahm seine konsistorialen Aufgaben von Preßburg aus wahr, wobei er nur zu den Kollegiumssitzungen nach Wien reiste, wenn er nicht überhaupt nur korrespondierend an den Beratungen Anteil nahm. Am Gaistorfriedhof neben dem Palisadenweg/Palisády liegt Glatz begraben - einer der bedeutenden Zipser Schriftsteller der Goethezeit.

 

 

c. Die dritte Persönlichkeit, die ich hier anführen möchte, um die Verbindung zwischen Wien und Preßburg zu illustrieren, hat diese Wegstrecke sehr oft hinter sich gebracht, es ist der slowakische Kirchen- und Kulturhistoriker Ján Kvačala.

 

Er stammte aus dem sogenannten unterem Landes, also dem damaligen Südungarn, aus der Batschka im heutigen Restjugoslawien, dem Landstrich zwischen Donau und Theiß, der von Magyaren, Donauschwaben, Serben, Kroaten und Slowaken besiedelt war. Ein multikulturelles Leben, von dem Kvačala das wichtigste sich zu eigen machte: das Interesse am Anderen und die Kenntnis der Sprache des Anderen. Er durchlief slowakische, magyarische und deutsche Schulen, absolvierte das Lyceum in Preßburg, studierte in Leipzig, wo er mit einer Arbeit über die Philosophie, insbesondere die Physik des Comenius zum Dr.phil. promovierte. In der Folge unterrichtete er am hiesigen Lyceum Latein, Griechisch, Ungarisch, Deutsch, Slowakisch und Religion, er wusste also seine Sprachkenntnisse mit der entsprechenden Sprachdidaktik zu vereinen. 1893 wurde ihm als vierzigsten Promovenden der theologische Doktorgrad der Wiener Fakultät verliehen - und zwar aufgrund seiner Arbeit „Johann Amos Comenius. Sein Leben und seine Schriften“ (1892). Von diesem Buch hat die internationale Comeniusforschung behauptet, dass es überhaupt erst die Grundlagen für die moderne Comeniologie schuf, zu der Kvačala selbst viele weitere maßgebliche Beiträge beisteuerte. Seine Berufung zum Ordinarius für historische Theologie an die Universität Dorpat in demselben Jahr war die logische Folge. Einen Ruf nach Wien zurück, als Professor für Praktische Theologie 1895, hat er abgelehnt.

 

Zurückgekehrt ist er indes ein Vierteljahrhundert später nach Preßburg, freilich nicht wie erhofft als Professor für die Geschichte der Neuzeit an der Comenius-Universität, sondern für Kirchengeschichte an der außerhalb der Universität stehenden Theologischen Hochschule, deren Träger die Evangelische Kirche A.B. in der Slowakei gewesen ist. Wissenschaftliches Aushängeschild dieser Anstalt war zweifellos Kvačala, dessen Namen auch heute noch jeder Student kennt. Denn von ihm stammt die nach wie vor nicht ganz überholte Reformationsgeschichte der Slowakei, die posthum 1935 in Lipt. Mikuláš erschienen ist. Bei den Korrekturarbeiten zu diesem Buch ist Kvačala im Juni 1934 verstorben - nota bene in der Bibliothek unserer Wiener Fakultät in der Liebiggasse.

 

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Dieser wissenschaftliche Gedankenaustausch zwischen Wien und Bratislava war möglich, ja gehörte zum akademischen Brauch.

 

Ich möchte dem heute wiedereröffneten Institut für Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes wünschen, dass es zu einer Drehscheibe dieses zwischenkirchlichen und interkulturellen Diskurses werden kann, um dort anzuschließen, wo mein verehrter Vorgänger und Lehrer Peter F. Barton sein Institut verortet hat - als „Brücke zwischen Kirchen und Kulturen“ (1976). 

 

Literatur

Peter F. Barton, Das „Institut für protestantische Kirchengeschichte, Wien“. In: ders./Mihály Bucsay/Robert Stupperich, Brücke zwischen Kirchen und Kulturen (= Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte II/1), Wien-Köln-Graz 1976, S.80 ff.

Peter F. Barton (Hg.), Bibliographie zur Geschichte der evangelischen Christen und des Protestantismus in Österreich und der ehemaligen Donaumonarchie (= Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte VI/1), Wien 1999.

Harald Baumgartner, Verzeichnis der Promotionen und Habilitationen an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. In: Karl Schwarz/Falk Wagner (Hg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultätin Wien 1821-1996 (= Schriftenreihe des Universitätsarchivs 10), Wien 1997, S. 515 ff.

Karol Gábriš, Theologie im Dienst der Kirche heute. Symposium anläßlich des 60. Jahrestages der Evangelisch-theologischen Fakultät der Comenius Universität zu Bratislava, Bratislava 1995, S. 15 ff..

František Hýbl, Prof.PhDr. und ThDr. Ján Kvačala - der Begründer der modernen wissenschaftlichen Comeniologie. In: Frank Boldt (Hg.), Jan Amos Comenius und die Entwicklung des Bildungswesens in Mitteleuropa seit dem 17. Jahrhundert, Prag 1993, S. 153 ff. 

Igor Kišš, Alma mater für die Slawen. In: Glaube in der Zweiten Welt 26 (1998) H.2, S. 24 f.

Gustav Reingrabner, Aus der Kraft des Evangeliums, Erlangen o.J., S. 76 f.

Rudolf Řičan, Ján Kvačala (1862-1962). In: Communio Viatorum 5 (1962) S. 207 ff., 315 ff.

Karl Schwarz, Von Kollár bis Kavačala. Die Wiener Evangelisch-theologische Lehranstalt/Fakultät und ihre Beziehungen zur Slowakei. In: Der Donauraum 34 (1994) H.3/4, S.90 ff.

Karl Schwarz, Jakob Glatz - eine biographische Skizze. In: Gustav Reingrabner/Monika Haselbach (Hg.), Evangelische in Österreich. Vom Anteil der Protestanten an der österreichischen Kultur und Geschichte, Wien 1996, S. 110 ff.

Karl Schwarz, Jeden z listov Jána Kvačalu [Ein Brief von Ján Kvačala]. In: Metanoia. Zborník pri priležitosti sedemdesiatky Prof. ThDr. Karola Nandráskeho [Festschrift für K. Nandrásky zum 70. Geburtstag], Bratislava 1998, S. 173 ff.

Karl Schwarz, Protestantische Theologie in Prag, Preßburg, Budapest und Wien. Einige kirchengeschichtliche Streiflichter. In: Österreichische Osthefte 42 (2000) H.1, S. 57 ff.