Ruprecht Steinacker, dem karpatendeutschen Europäer
zum 90. Geburtstag

von Karl W. Schwarz

Am 29. August 2004 feierte Ruprecht Steinacker im Kreise seiner Familie in Klosterneuburg seinen 90. Geburtstag. Klosterneuburg wurde gewählt, weil dies der Alterssitz seines Großvaters Edmund Steinacker gewesen ist, der 77 Jahre vor ihm geboren wurde und dessen Geburtstag ja ebenfalls in diesen Tagen begangen wurde (23. August).

Das Geburtstagsfest wurde vom Jubilar als eine familiengeschichtliche Akademie durchgeführt und fand in einem gemeinsamen Besuch des großväterlichen Grabes einen würdigen Abschluss. Der Berichterstatter war der Einladung gefolgt, vor allem, weil er die narrative Form der Familiengeschichte schätzt, die den Jubilar so auszeichnet. Man hört ihm gerne zu, er kann so richtig spannend Geschichte(n) erzählen, insbesondere wenn es um die so weitläufige Familie Steinacker-Glatz geht. Um sich in dieser Familie auszukennen, zahlt es sich aus, Geschichte zu studieren, die Geschichte des Donau- und Karpatenraumes, mit der die Steinackers und die Glatz so eng verbunden sind.

Ich war auch dazu eingeladen worden, weil ich ein kleines Detail zur Erforschung dieser Familiengeschichte beigetragen habe. Dieses Detail möchte ich gerne erzählen:

Der Großvater, an dessen Grab wir gestanden sind, gilt als der herausragende Führer der Ungarndeutschen im 19. Jahrhundert. Und es dürfte wohl kein Buch über diesen Kulturraum geben, in dem nicht dieser Name Edmund Steinacker aufscheint. Geboren ist er in Debrezin/Debrecen im Jahre 1837. Aufgewachsen ist er aber in Göllnitz/Gelnica in der Zips, wo sein Vater Gustav Wilhelm Steinacker (1809-1877) als evangelischer Pfarrer wirkte. Dieser wurde 1846 von der evangelischen Gemeinde A.B. in Triest/Trieste/Trst zum Prediger gewählt. Diese Gemeinde gehörte zur Evangelischen Kirche in "Cisleithanien", deren geistliche Amtsträger (im Unterschied zu Transleithanien) noch nicht Pfarrer genannt werden durften, weil diese parochialen Funktionen, die Führung der Standesbücher, dem römisch-katholischen parochus ordinarius vorbehalten waren. Dieser Gustav Wilhelm Steinacker war aber ein so freiheits- und gerechtigkeitsbewusster Mensch, dass er von Triest aus einen ganz erheblichen Beitrag zur Emanzipation der Protestanten in Österreich leistete. Auf seine Initiative fand im August 1848 eine Art "Vorsynode" der Kirche statt, an der er als Schriftführer teilnahm und deren Anliegen er auch späterhin mit Nachdruck mündlich und schriftlich vertreten hat.

Triest war ein besonderer Ort der Donaumonarchie, die Gemeinde war wohlhabend, sie durfte sich sogar eine Kirche (mit Kirchturm) bauen, das heißt: diese evangelische Gemeinde verfügte schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (im Unterschied zur evangelischen Toleranzkirche in Restösterreich) über das Öffentlichkeitsrecht, das "exercitium religionis publicum". Und gemeinsam mit der evangelischen Gemeinde H.B. wurde in Triest eine evangelische Schule geführt, das war sozusagen die kostbare Frucht einer Union von A.B. und H.B. – und wenn es nach den Vorstellungen Steinackers gegangen wäre, so hätten die beiden Gemeinden in Triest bald das Projekt einer solchen Union in Angriff genommen. Das magyarische Unionsprogramm des Grafen Károly Zay (1797-1871) hat Steinacker jedenfalls in Österreich bekannt gemacht und dafür geworben. Freilich ist aus allen diesen Plänen nichts geworden. In Triest widersetzten sich die Reformierten, in Österreich vor allem die Lutheraner in Oberösterreich, in Ungarn aber die Slowaken, die mit Recht fürchteten, dass mit der vom obersten Kirchenrepräsentanten propagierten Union eine rasche Magyarisierung der überwiegend slowakischen Kirche A.B. einhergehen würde. Graf Zay, der Generalkircheninspektor der Ungarländischen Evangelischen Kirche A.B., hat seinem Unionsprogramm eine klare magyarisierende Absicht unterlegt (Seien wir weder Lutheraner, noch Calvinisten (…) aber seien wir Magyaren!).

Als Edmund Steinacker das Gymnasialalter erreichte, schickte ihn sein Vater nach Ungarn, um eine ungarische Bildung zu erlangen, vor allem, um die seit Kindestagen bestehenden Sprachkenntnisse zu vertiefen. Steinacker war schon seit den Göllnitzer Tagen mit dem Pfarrer von Eperies/Prešov Moritz Kolbenheyer (1810-1884) befreundet, der unterdessen zum Pfarrer in Ödenburg/Sopron gewählt worden war. Als Pflegesohn wuchs Edmund Steinacker also im Ödenburger Pfarrhaus auf und besuchte dort das traditionsreiche Lyceum.

Schon sein Vater Gustav Wilhelm Steinacker hat sich um die ungarischsprachige Literatur sehr verdient gemacht, er hat viele magyarische Werke ins Deutsche übersetzt und ist so zu einem Vermittler zwischen diesen beiden Literaturen geworden. Dafür wurde ihm sogar die Ehrenmitgliedschaft in der Kisfaludy-Gesellschaft zuteil. Dieser Vermittlungsgedanken kann mit Fug und Recht auch für den Sohn Edmund gelten, auch wenn sein Verdienst in der nationalen Erweckung des Ungarndeutschtums erblickt wird. Er war aber auch ein Europäer, der Europa erreist hat, der einen ganz deutlichen europäischen Horizont in seinem politischen Wirken aufzuweisen wusste.

In dem Spannungsbogen zwischen der ungarländischen Heimat, in der Magyaren, Deutsche, Slowaken, Kroaten, Slowenen und Rumänen zusammenlebten, und der Option für eine dieser in dem Kulturraum zusammenlebenden Nationen, standen auch die beiden Söhne des ungarndeutschen Politikers, der Theologe Roland Steinacker (1870-1960) und der Historiker Harold Steinacker (1875-1965), letzterer als Professor an den Universitäten Prag und Innsbruck und als Mitbegründer der Südostdeutschen Historischen Kommission.

Als Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Pressburg/Bratislava/Pozsony hat Roland Steinacker in deutscher Sprache gelehrt. Um den homiletischen und katechetischen Dienst in den deutschen Gemeinden der Zips und im Pressburgerland zu gewährleisten, hat die Slowakische Kirche A.B., welche der Rechtsträger der Hochschule gewesen ist, eine deutschsprachige Lehrkanzel eingerichtet. Sie blieb solange bestehen, bis die kirchliche Hochschule 1934 als Fakultät in staatliche Trägerschaft überführt wurde. Damit war aber dem weiteren Wirken Steinackers eine Grenze gesetzt.

Ich erwähne nur noch, dass er am 17. Dezember 1923 an der Universität Wien promoviert wurde. Das war nota bene die erste Promotion nach der Inkorporierung der Evangelisch-theologischen Fakultät in den Verband der Alma Mater Rudolfina (1922). Und auch damit ist ein bemerkenswertes familiengeschichtliches Detail verbunden, das hier erwähnt zu werden verdient. Denn Roland Steinacker wurde an jener Fakultät promoviert, deren Studienpläne auf den aus der Zips stammenden Konsistorialrat Jakob Glatz (1776-1831) zurückgingen. Und der war sein Urgroßvater! Das Thema der Dissertation lautete übrigens: "Die Stellung der Kirchengeschichte im Religionsunterricht".

Vor diesem skizzierten Hintergrund nun ein paar Stichworte über den Jubilar: Geboren noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in dem Dorf Kaltenstein/Lehel am Heideboden im Wieselburger Komitat, Kindheit in Pressburg/Bratislava/Pozsony, Studium (Lehramt für Deutsch und Geschichte) in Prag, Berufstätigkeit in Zipser Neudorf/Spišská Nová Ves/Igló und Pressburg/Bratislava/Pozsony. Nach dem Krieg und nach der Kriegsgefangenschaft wurde Steinacker Lehrer in Düsseldorf, später Direktor einer Realschule. Er engagierte sich in der Lehrerfortbildung sowie vor allem im Rahmen der Karpatendeutschen Landsmannschaft. Als deren Kulturreferent entfaltete er eine weitläufige literarische, publizistische und wissenschaftliche Tätigkeit, er wurde in die Südostdeutsche Historische Kommission berufen und ließ sich gerne zu Vorträgen verpflichten, in denen er das Zusammenleben der Kulturen im Donau- und Karpatenraum thematisierte. Ich habe ihn immer wieder als karpatendeutschen Europäer erlebt und so möchte ich ihn auch als solchen hochleben lassen. Er vereinigt das historische Wissen und das kulturelle Bewusstsein, die bewusste lutherische Frömmigkeit und den weiten europäischen Horizont seiner Vorfahren. Wenn man mit ihm ins Gespräch kommt, spürt man das sofort. Und es ist ein Vergnügen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wo immer es anfangen mag, es führt unweigerlich in die historische Weite und Tiefe des Donau- und Karpatenraumes. Mit ihm ist er zutiefst verbunden, in dessen Geschichte ist er verwurzelt. Als ein Kind dieses Raumes kultiviert und praktiziert er alle drei Sprachen, die in Pressburg/Bratislava/Pozsony gesprochen wurden. Vielleicht ist dieser Zusammenklang, die Symphonie dreier Sprachen, die Symbiose von vier Kulturen unter Einschluss des jüdischen Elements, die das besonders Europäische dieser Region ausmachen. Das haben wir von Ruprecht Steinacker gelernt, dafür gebührt ihm unser herzlicher Dank.